Rede Seiner Heiligkeit des Patriarchen Kyrill bei der Eröffnung des Internationalen Kongresses der orthodoxen Jugend in Moskau
Am 18. November 2014 eröffnete Seine Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland den Internationalen Kongress der orthodoxen Jugend in Moskau. Der Ersthierarch der Russischen Kirche richtete sich mit folgender Ansprache an die Kongressteilnehmer.
In dieser Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der orthodoxen Jugend in Moskau erörtert Seine Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland solche für die jungen Christen wichtigen Aspekte wie Jugendarbeit der Kirche, die Teilnahme der jungen Menschen am kirchlichen Leben und insbesondere an der gemeindlichen Beratung, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Vorteile und Gefahren der Sozialnetzwerke und viele andere Themen.
Eure Eminenzen und Exzellenzen! Liebe Väter, Brüder und Schwestern!
Ich möchte euch alle zu dieser großartigen Versammlung der orthodoxen Jugend herzlich begrüßen. Noch vor kurzer Zeit war es schwer vorstellbar, dass es möglich sein könnte, mit der Unterstützung der Stadtverwaltung Moskau mehrere Tausende Vertreter der orthodoxen Jugend an einem Ort zu versammeln. Das spricht nicht nur dafür, dass die kirchlich-staatlichen Beziehungen sich in unserem Land sehr weit entwickelt haben, sondern in erster Linie dafür, dass bei uns wirklich eine orthodoxe Jugend existiert. Das ist ein markantes Zeugnis der großen Veränderungen, die im Leben unseres ganzen Volkes stattfinden.
Das Thema „Jugend“ ist in der Arbeit des Geweihten Synods und der Erzbischofskonzil ständig präsent. Viele von euch wissen, dass es zahlreiche wichtige Dokumente gibt, die, sollten sie verwirklicht werden, geeignet sind, die Jugendarbeit in entsprechender Weise zu organisieren. Nun ja; die administrativen kirchlichen Bemühungen sind von wichtiger Bedeutung, aber Dokumente sind die eine Sache, und das, was tatsächlich geschieht – eine andere. Um solche echten Ergebnisse wollen wir mehr erfahren. Gehen unsere Signale vielleicht ins Leere? Werden sie von der jungen Generation der Menschen, die der Orthodoxen Kirche verbunden sind, wirklich wahrgenommen? Um eine Rückmeldung zu bekommen, eure Stimmen und eure Meinung zu hören und euch zu Rate zu ziehen – dafür haben wir diesen großen Kongress der orthodoxen Jugend einberufen. Es ist also nicht das Ziel, euch einfach irgendwelche Vorträge, Ideen und Erwägungen zu präsentieren, sondern eure Meinung und eure Reaktion zu hören, was im Leben der Kirche und im Bereich der Jugendarbeit geschieht, was zufriedenstellend ist, was Fragen aufwirft und was befremdet oder eventuell gar Ablehnung hervorruft. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Kongress in der ganzen Kirche ernsthafte Überlegungen anstoßen wird, wo wir mit unserer Jugendarbeit stehen und wohin wir weiter gehen wollen.
Erlaubt mir jetzt, euch einige Gedanken über das moderne Leben und das Leben unserer Jugend mitzuteilen. Wir leben in einer Zeit, in der die Information – und davon sprechen alle, die beginnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen – das Weltbild und die Weltanschauung der Menschen weitgehend bestimmt. Denn die Information ist der Hauptfaktor. Warum bezeichnen wir unsere Gesellschaft als Informationsgesellschaft? Weil der Faktor „der modernen Gesellschaft Information“ heute entscheidend ist. Wenn die Massenmedien ein Ereignis beschweigen, scheint es fast nicht stattzufinden, und man müsste sich unglaubliche Mühe geben, um diesen Mantel des Schweigens zu lüften.
Wir wissen, wie sehr dieses Schweigen den wunden Punkt des Informationskonsumenten berührt, insbesondere dann, wenn auch dort geschwiegen wird, wo Blut vergossen und Menschen mit Ungerechtigkeit konfrontiert sind, und wo das Leid von Tausenden von Menschen im Schatten bleibt, während die Beschwerden Einzelner oder kleiner Gruppen als planetare Tragödie dargestellt werden. All das geschieht nicht, weil Menschen herzlos wären, sondern weil die Information, unter anderem, eine Waffe der politischen und ideologischen Beeinflussung ist.
Deshalb dürfen wird, wenn wir einen Tablet-PC öffnen oder uns an den Rechner setzen, keine rosarote Brille anziehen und nicht glauben, dass wir jetzt die Wahrheit erfähren. In den meisten Fällen sehen wir leider keine Wahrheit, insbesondere da, wo die Wahrheit lebenswichtig wäre.
Deshalb möchte ich, was das moderne Leben betrifft, unsere Jugend in erster Linie dazu aufrufen, die Geister zu unterscheiden (s. 1 Kor 12,10). Das ist sehr schwierig, aber es geht nicht ohne, denn der Teufel verkleidet sich als Engel des Lichtes, und es ist sehr schwer, diesen Teufel zu erkennen. Er verstellt sich, indem er das Streben nach Wahrheit, nach Großherzigkeit und insbesondere nach Freiheit – also nach Idealen, die dem menschlichen Herzen sehr nahe gehen – imitiert. Denn wer ist schon gegen Freiheit? Fragt die Menschen auf der Straße: bist du für Freiheit? Alle sind für die Freiheit! Wenn euch aber als Freiheit bzw. in der Gestalt der Freiheit Gift angeboten wird, dann kann man leicht von dieser Gestalt getäuscht werden und den Köder schlucken und sich vergiften. Gift ist lebensgefährlich. Deshalb ist eine kritische Einstellung zu Informationen sowie der Vergleich und die Bewertung der Informationen in Hinsicht darauf, wie sie die Seele beeinflussen, ein wichtiges Mittel zum Schutz gegen vieles Negative, was die heutige Informationsflut mit sich bringt.
Ich möchte noch einige Worte über das moderne Leben sagen. Der Faktor „Information“ bestimmt dies in außerordentlichem Maße. Seit der Einführung von Mobilfunk und Internet hat sich die Gesellschaft stark gewandelt. Die Menschen benutzen diese ungemein praktischen Erfindungen, und wir sehen, wie der wirtschaftlich- technische Fortschritt sich beschleunigt, das Ausbildungssystem sich entwickelt und der menschliche Horizont sich erweitert, da Information praktisch allgemein zugänglich wurde. Man braucht nicht mehr in Büchereien zu gehen und in vielbändigen Enzyklopädien zu blättern oder Monographien zu lesen; durch einen Mausklick findet sich schnell eine Antwort auf fast jede Frage, die zwar oft eine Vereinfachung sein mag, aber einleuchtend wirkt.
Andererseits haben diese neuen Entwicklungen auch ihre Schattenseiten. Die Versenkung der Menschen in diese virtuellen Welten der Information führt oft zu einem Mangel an realer menschlicher Kommunikation. Man kann sich leicht folgendes Bild vorstellen: in einem Zimmer sitzen junge Menschen und starren auf ihre Tablet-PCs, ohne tatsächlich miteinander zu kommunizieren. Wird einer von diesen Menschen was gefragt, wimmelt er den Fragesteller ab. Was macht er also? Er kommuniziert in den sozialen Netzwerken. Es gibt keine lebendige Kommunikation mehr und auch keinerlei Interesse daran; nur die Kommunikation in den sozialen Netzen ist von Interesse.
Was passiert, wenn wir die reale Kommunikation durch die virtuelle ersetzen? Wir streichen einen unglaublich wichtigen Aspekt aus unserem Leben, nämlich die persönliche Erfahrung der Kommunikation mit lebendigen Menschen. Jenseits der persönlichen Kommunikation gibt es nichts, was uns diese Erfahrung ermöglicht. Wir wissen, dass solche Erfahrungen bei der Lösung von Problemen des Familienlebens fehlen. Wir müssen zugeben, dass wir unser Leben häufig mit Menschen verknüpfen, mit denen wir es eventuell nicht hätten verknüpfen sollen. Das machen wir aus Unerfahrenheit und aus Unwissen – wir haben keine Kommunikationserfahrung, können nicht sehen, was uns die Augen des Menschen zeigen. Denn die persönliche Kommunikation vermittelt nicht nur rationale Botschaften, sondern auch emotionale und spirituelle.
Es heißt manchmal, dass um jeden Menschen herum ein gewisses Kraftfeld existiert. Ich möchte es nicht wagen, diesen Begriff zu charakterisieren, weiß aber ganz genau, dass jeder Mensch eine bestimmte Energie ausstrahlt. Ich glaube, jeder von euch weiß das. Manchmal, wenn wir in die Augen eines Menschen hinschauen, sehen wir einen klaren, friedlichen Blick und die reine Seele; manchmal aber auch das teuflische Feuer. Ist es aber möglich, seelische Reinheit im Internet zu spüren, auch wenn ein Gesprächspartner darüber sehr schön philosophiert? Ist es möglich, das teuflische Feuer zu sehen, wenn du nur Fotos oder Text vor dir hast?
Ich rufe euch nicht dazu auf, die sozialen Netzwerke komplett zu verlassen, möchte aber folgendes sagen: ihr dürftet euch keinesfalls derart in sie versenken, dass sie euch die anderen Möglichkeiten, die Welt zu sehen, verbauen - denn dies ist für die menschliche Persönlichkeit gefährlich.
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Worte über das kirchliche Leben sagen. Was ist die Gemeinde? Was sind Gotteshaus und Gottesdienst? Das ist ja nicht nur Gebet zu Gott hingeben, sondern auch die spirituelle Kommunikation miteinander. Ich erinnere mich, wie in der Nachkriegszeit in Leningrad, als es dort so wenige Kirchen gab, mehrere Tausende Menschen ins Gotteshaus hineindrängten; und ich erinnere mich daran, wie ich, schon als Vorschuljunge, dann als Schüler, einer langen Liturgie beiwohne und stehe, von allen Seiten eingeklemmt, und fast nichts sehen kann, weil ich ja noch klein bin, und nur diese Wärme von menschlichen Körpern, dieses besondere Ambiente wahrnehme. Einen besonderen Eindruck machte auf mich immer der Augenblick, in dem diese ganze Menge von durch die Umstände bedrückten Menschen beginnt, das Glaubensbekenntnis zu singen. Das war faszinierend. Dieser Gesang von mehreren Tausenden Menschen in den Gotteshäusern Leningrads der Nachkriegszeit habe ich immer noch in meinen Ohren. Ja, die Menschen gingen danach nach Hause und kommunizierten, aus verschiedenen Gründen, nicht miteinander – so wie wir es jetzt auch machen, indem wir manchmal ins Gotteshaus kommen und wieder fortgehen, ohne miteinander zu kommunizieren. Aber auch diese Teilnahme am Gebet hat nicht nur eine vertikale Dimension – ich und Gott – sondern auch eine horizontale – ich und derjenige, der neben mir ist.
Um den Einfluss der virtuellen Welt auszugleichen und die kommunikative Erfahrung zu erweitern, müssen unsere Pfarreien wirkliche Gemeinden sein. Ich sage dies, seit ich als Erzbischof diene. Was wäre dafür nötig? Nötig wäre, dass das Leben einer Pfarrei sich nicht nur auf den Gottesdienst beschränkt. Ich sehe es als obligate Aufgabe unserer Geistlichen, dass in jeder Pfarrei, die einigermaßen organisiert und fähig ist, sich selbst aufrechtzuerhalten, eine außergottesdienstliche Tagesordnung vorhanden ist. Wir brauchen außergottesdienstliche Versammlungen mit jungen Menschen, eventuell auch mit einsamen alleinstehenden Männern und Frauen. Denn das ist ja auch eine sehr wichtige soziale Funktion. Stellt euch eine alte Frau vor, die niemanden hat, weder Verwandte noch Freunde, sie lebt allein in der Vergangenheit. Sie schaltet das Fernsehen ein und kann nicht verstehen, was los ist; sie schaut aus dem Fenster und kann auch dort nichts verstehen. Wo kann sie sich als Persönlichkeit verwirklichen, wo kann sie Unterstützung finden? In der Kommunikation mit Anderen. Wäre die Arbeit mit solchen Senioren in der Pfarrei in der außergottesdienstlichen Zeit und die Organisation ihrer Freizeit im guten Sinne des Wortes, zusammen mit dem Gebet, kein gutes Werk für die Kirche, für die Gesellschaft und sogar für den Staat? Wenn solche Werke aber für Senioren wichtig wären, um wieviel wichtiger wären sie für die Jugend.
Wir brauchen nicht mit irgendwelchen Mitbewerbern zu konkurrieren. Es gibt andere Plattformen, auf denen junge Menschen mehr Spaß haben können und wo es lustiger zugeht, und wenn die Kirche sich mit diesen Plattformen vergleichen will und versucht, mit ihnen zu konkurrieren, wird sie immer verlieren. Aber wenn außergottesdienstliche Versammlungen der Jugend im spirituellen Kontext stattfinden sollten (und auch schon stattfinden), wären sie sehr inhaltsreich, und sie würden auf Verstand und Herz sehr positiv wirken und die Solidarität unter den jungen Menschen befördern.
Ich möchte noch ein weiteres wichtiges Problem der Gegenwart ansprechen. Diese Probleme können wir in drei Bereiche unterteilen: die Folgen der Informationsgesellschaft, das Streben nach Spaß und das Streben nach Bequemlichkeit. Das sind die Dinge, die die heutige Konsumgesellschaft ausmachen. Diese drei Faktoren bestimmen heute das Profil der modernen Gesellschaft und häufig die der modernen jungen Menschen.
Sprechen wir von Bequemlichkeit, geht es natürlich nicht um die Rationalisierung des Lebens. Denn unter Bequemlichkeit kann man auch eine gut ausgestattete Arbeitsstelle mit guter Technik und vieles andere verstehen, was dem Menschen hilft, sich zu verwirklichen und seine Arbeit gut zu verrichten. Aber es geht nicht darum. Es geht nicht um Gegenstände, sondern um die Weltanschauung.
Es gibt einen Begriff – heute sprechen ja alle Englisch, es ist schon eine Art internationaler Slang geworden – der lautet relax and enjoy, also „Entspann dich und hab Spaß“. Auf Russisch lautet es manchmal anders: „Streng dich nicht an“, „Mach dir keine Umstände“ oder „Bist du etwa ein Streber? Entspann dich!“ Um diesen Zustand der Entspanntheit zu erreichen, werden riesige Bemühungen aufgewendet, denn dazu braucht man Geld. Und wenn das Geld da ist, wofür sollte man es ausgeben? Für die Ziele, deren Erfüllung für den Menschen am wichtigsten ist. Ist sein wichtigstes Ziel Bequemlichkeit, wird er sein Geld eben dafür ausgeben.
All das steht im drastischen Widerspruch zur christlichen Botschaft: wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig (Mt 10,38). Und was bedeutet denn „Streng dich nicht an“? Vergiss das Christentum! Und was ist das Kreuz? Ist das etwa ein Instrument zum Erschweren des menschlichen Lebens, ein Werkzeug zum Quälen? Ganz und gar nicht. Der Herr brachte uns kein Werkzeug zum Quälen. Er bestieg das Folterwerkzeug, um uns die Freiheit zu geben und uns zu einem anderen Leben zu berufen, uns von dieser vergänglichen Erde loszulösen und zum Himmel emporzuerheben…
Aber um eine Höhe zu besteigen, braucht man Kraft. Aus Filmen und Büchern wisst ihr wahrscheinlich, wie viel Mühe sich ein Bergsteiger gibt, um einen Gipfel zu besteigen. Was passiert aber mit dem Menschen, der einen Berg besteigt? Er strengt sich an, kommt so vorwärts und leistet damit Außerordentliches, und manchmal sogar eine Heldentat, um seinen Nächsten zu retten. All das nennt sich Podwig (Glaubenstat). So ist es mit dem Kreuz: ohne Podwig gibt es keine Vollkommenheit, und ohne das Kreuz zu tragen kann es keine Vollkommenheit geben. Werft jegliche Propaganda weg, die besagt, relax and enjoy sei der Weg zur Vollkommenheit. Es ist vielmehr der Weg zum Verfall, nicht nur der individuellen Persönlichkeit, sondern der menschlichen Zivilisation.
Jetzt möchte ich noch einiges zu dem wichtigen Thema „zwischenmenschliche Beziehungen“ sagen. Im Wort Gottes gibt es nichts Bedeutungsloses. Jedes Gebot ist wie ein Leitstern für das Leben, wie ein Sonnenstrahl. Wer schon einmal in eine Situation geraten ist, in der das menschliche Leben von einem Sonnenstrahl abhängt, wird verstehen, wovon ich rede. Ich selber bin in solche Situationen geraten, in denen es, physikalisch gesehen, eben das Licht, ein kleines Flämmchen irgendwo in der Ferne war, das mir das Leben rettete. Hätte ich dieses Flämmchen nicht gesehen, wäre ich ums Leben gekommen. Im gewissen Sinne retten uns diese Flämmchen der Gebote, denn auch bei dem hellsten (und auch bei künstlichem) Licht kann es sein, dass der Mensch im Dunkeln bleibt, zwischen den Werten nicht unterscheiden kann, die Ideale verwechselt und von seinem Lebensweg abkommt.
Damit entsteht die Frage, ob all diese Göttlichen Gebote, die so unmodern sind, tatsächlich noch Leitsterne sind? Die Antwort ist einfach – nur sie allein sind die Leitsterne. Nur wenn der Mensch sich daran orientiert, kann er erfolgreich seinen Lebensweg gehen, seine Seele retten und das Glück erreichen.
Als ich vor einigen Tagen vor einem anderen Publikum eine Rede hielt, sagte ich, dass ohne sittliche Grundlage kein menschliches Glück existieren kann, denn fehlende Sittlichkeit ist mit dem Glück unvereinbar. Warum unvereinbar? Die Antwort ist sehr einfach: Gott wollte es so, denn ER erschuf uns nicht als Tiere, sondern als freie vernünftige Menschen. In der Tierwelt gibt es zwar kein Sittlichkeitsprinzip, aber auch dort gibt es bestimmte Verhaltenskodices, der mit den physiologischen Zyklen des Organismus eines Tieres verbunden sind. Wenn wir dieses Verhalten beobachten, finden wir die Gerechtigkeit, die im Tierreich herrscht, manchmal sogar faszinierend. Wir staunen, wie sehr Muttertiere ihre Jungen lieben, wie sehr ein kleines Vögelchen bereit ist, seine Nachkommen zu schützen, indem es einen Menschen oder ein großes Tier angreift. Wir sagen, dass dies keine Sittlichkeit ist – es ist Gott, der diesen Mechanismus festgelegt hat, der auch biologisch funktioniert, und nach einer gewissen Zeit vergeht der Mutterinstinkt, und das Tier liebt seinen Nachwuchs nicht mehr. Was den Menschen betrifft, ist ihm den Begriff der Sittlichkeit zu eigen. Leben wir nach diesem sittlichen Gesetz, tragen wir in uns das Potential zum Glücklichsein. Zerstören wir in uns dieses sittliche Gesetz, verlieren wir das Potential, glücklich zu sein.
Jetzt möchte ich zu einem anderen Thema übergehen, das für junge Menschen sehr wichtig ist. Die Kirche erkennt das, was „nichteheliche Lebensgemeinschaft“ oder einfach „wilde Ehe“ genannt wird, nicht an. Warum? Gott befahl uns, nicht so zu leben, und das war’s. Wenn man will, kann man darüber lachen, kann sich aber auch Gedanken machen. Mögen wir darüber nachdenken.
Warum gehen Menschen diese Beziehungen vor der Ehe, häufig mehrmals, ein? Die übliche Antwort lautet: Es ist besser, mit einem Partner (bzw. einer Partnerin) zusammenzuleben, als sich herumzutreiben. Eine andere Antwort ist, man müsse den Charakter des Partners erst besser kennenlernen. Was passiert aber meist in Wirklichkeit? Man hat mit einem Partner zusammengelebt, und es hat irgendwie nicht geklappt, ihn oder sie besser kennenzulernen. Dann hat man mit einem anderen zusammengelebt, und wieder hat es nicht geklappt. Wie häufig wechseln junge Menschen, wie man es heute gewöhnlich nennt, ihre Partner. Mögen wir nun daran denken, was das Wichtigste und Essentielle ist – Grundlage der Ehe ist die Liebe. Ohne Liebe gibt es keine Ehe. Können denn Beziehungen, die keine gegenseitige Verantwortung voraussetzen, „Liebe“ genannt werden? So fangen junge Menschen an, miteinander zu leben und dann spüren sie vielleicht, dass sie einander wirklich lieben, es ist ihnen ganz klar. Warum schließen sie dann keine Ehe? Denn einer oder beide haben ihre eigene Agenda, die vor dem Anderen, oder, wie man heute sagt, vor dem Partner geheimgehalten wird, und die beginnt mit den Worten „Was ist aber, wenn…? Ich warte lieber ab, denn ich habe meine eigenen Pläne.“
Häufig höre ich tragische Geschichten darüber, wie einer der Partner leidet (Partner ist ein schlechtes Wort, ich benutze es aber, da es für alle klar verständlich ist), wenn der Andere ihn plötzlich verlässt. Er verlässt ihn aber nicht zufällig, da der Charakter einer solchen Beziehung ohne jegliche Verpflichtungen eben eine mögliche Trennung beinhaltet. Manchmal denkt man ja, je mehr solche Erfahrungen man hat, desto besser. Man könnte dies mit der Meinung vieler Menschen vergleichen, dass man seine Kleidung möglichst oft waschen sollte. So könnte man sie aber so verwaschen, dass sie am gebraucht und abgetragen aussieht. Der sittliche Zustand des Menschen und sein sittliches Gefühl sind aber sehr zerbrechlich; und sind sie erst einmal zerbrochen, wird es für die menschliche Persönlichkeit sehr gefährlich.
Heute erzählen euch alle – Fernsehen, Kino, Internet – darüber etwas anderes. Alles richtet sich auf die Befreiung des Instinkts, der vermutlich der stärkste ist und in gewissen Situationen den Menschen ganz zu steuern vermag. Das bedeutet aber nicht, dass das, was dort gesagt wird, die Wahrheit ist. Die Wahrheit ist nur da, wo Gott ist.
Unsere Statistik der Ehescheidungen ist fürchterlich. Eine Statistik über die Zerrüttung wilder Ehen gibt es bei uns aber gar nicht. Und wenn wir die Statistik der Zerrüttung der nichtehelichen Beziehungen und die der zerrütteten Ehen einmal zusammenlegen und ausrechnen würden, wie sich unsere Gesellschaft darstellt? Die ganze Gesellschaft befindet sich im Zustand der Scheidung. Das kann weder für die sittliche Natur der Menschen noch für den Zustand der Gesellschaft selbst ohne Wirkung bleiben.
Ich bin ich mir darüber im Klaren, dass es vielen von euch sehr schwer fallen mag, das jetzt zu akzeptieren. Ihr solltet aber wenigstens über diese Worte nachdenken, euer Verhalten mit dem Wort Gottes vergleichen und den bewundernswerten Worten des Heilands „ denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,30) vertrauen. Es mag sein, dass es schwer fällt, dies in relativ jungem Alter (zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Jahre) zu verstehen; aber wenn der Mensch älter wird, beginnt er viel mehr zu verstehen. Denn sobald die Pforten der Ewigkeit sich vor uns öffnen, werden wir alles verstehen. Dann werden all diese Worte überzeugend und verständlich werden; aber nur im Hier und Jetzt wird uns Zeit gegeben, damit wir in der Ewigkeit den Herrn treffen.
Ich denke, dass die Fähigkeit, sich zu freuen und Gott zu danken, sehr wichtig ist. Das Christentum als Religion ist weder freudlos noch trauernd. Es ist kein System von Tabus, das die Menschen beklemmen und ihr Leben beeinträchtigen würde. Das Christentum spendet eine riesige Energie, es befreit den menschlichen Geist wirklich, hebt den Menschen über der augenblicklichen Zeitumstände empor und eröffnet uns eine grandiose Perspektive. Sie ist nur dann zu sehen, wenn wir für die Bestimmung des eigenen Lebens und des Lebens anderer Menschen das Göttliche Kriterium einsetzen. Dieser Zustand der Freude und der Dankbarkeit an Gott entspringt dem Vertrauen in Gott. Nicht umsonst bedeutet das wichtigste Mysterium der Kirche, die Eucharistie, in der Übersetzung Danksagung , Wir versammeln uns alle zusammen als Kirche, um Gott zu danken, denn das Wort „Danke“ ist das angemessenste aller Wörter, die der Mensch an Gott richten kann. Alles andere – unsere Bitten und sogar unsere Tränen – ist sekundär. Denn der Weg, den Gott uns durch das Leben weist, ist durch seinen Wunsch bestimmt, uns so sehr wie möglich zu helfen, das ewige Leben zu erhalten.
Es gibt viele Gründe, warum die Kirche so große Hoffnungen in die jungen Menschen legt. Ich werde jetzt etwas Unerwartetes sagen. Vor fünf oder vor zehn Jahren hätte ich es nicht gesagt, und erst recht nicht vor zwanzig Jahren. Je mehr ich aber das Leben moderner orthodoxer junger Menschen beobachte, desto mehr verstehe ich, dass es die junge Generation ist, worauf sich die Gestaltung der neuen gesunden orthodoxen Lebensweise richtet. Von dieser Lebensweise sprechen wir schon lange. Bereits Ende der 1990er habe ich angefangen, darüber zu schreiben, aber selbst noch nicht verstanden, was diese neue Lebensweise bedeutet soll. Aber jetzt, wenn ich euch sehe, verstehe ich, dass ihr das Potential habt, diese neue Lebensweise zu erschaffen. Um diese Lebensweise zu demonstrieren, ist es nicht nötig, die Kleider des 19. und 20. Jahrhunderts wieder aus dem Schrank zu holen. Man sollte keine Dresscodes aufstellen, denn ein Dresscode ist bloß eine Form. Aber unser Auftreten, die Art, wie wir unser Zuhause einrichten, unsere Interessen und Bestrebungen, die Art, wie wir unsere Kinder erziehen, und wie und in welchem Maße wir als moderne gutausgebildete Menschen unseren Glauben im alltäglichen Leben verwirklichen – all das bestimmt unsere Lebensweise. Ich denke, dass ihr berufen sind, dieses Modell einer modernen christlichen Lebensweise zu erschaffen.
Nun möchte ich mit euch einige praktische Fragen erörtern. Das Erzbischofskonzil besteht darauf, dass in jeder Gemeinde, die es organisieren und aufrechterhalten kann (denn es gibt auch kleine, dörfliche, finanziell schwache Gemeinden; es geht aber um Gemeinden, welche die Möglichkeit haben, gemeindliche Beziehungen aufzubauen), Jugend- und Sozialarbeit verrichtet und eine Sonntagsschule angeboten wird. Dabei stellt sich die Frage – wer soll das alles machen? Wir haben so gut wie keine andere Quelle und kein anderes Potential außer unserer Jugend.
Wenn wir von den Prioritäten sprechen, ist es meiner Ansicht nach heute das Wichtigste, dass junge Menschen in den Gemeinden an der gemeindlichen Beratung teilnehmen. Wir nennen das „die missionarische Arbeit in den Gemeinden“. Häufig passiert folgendes: ein Mensch kommt direkt von der Straße ins Gotteshaus, und dort begegnet ihn manchmal nur eine muffelige alte Frau und manchmal auch eine nicht besonders gut ausgebildete Kerzentischbetreuerin (heute bereiten wir auch diese Mitarbeiter darauf vor, den Gemeindemitgliedern die frohe Botschaft zu verkünden). Ist unser lieber Gast gar nicht ins kirchliche Leben integriert, kommt er in diese Umgebung und versteht sehr wenig, da die Kultur des Gottesdienstes nicht seine Kultur ist. Er ist bereits durch diese äußeren Faktoren verwirrt, und dann gibt es da auch niemanden, der ihm etwas erklärt und zeigt und ihm hilft zu verstehen, was da geschieht. So entstand die Idee, dass diese Gemeinden gemeindliche Berater haben sollten, die sich eventuell in der Nähe von den Kerzentischen befinden. Das erste, was so ein Berater tun sollte, ist, zu bemerken, wer ins Gotteshaus hineinkommt. Wäre dies ein Mensch, der nichts versteht und ratlos umherblickt, dann käme dieser gemeindliche Missionar, der Berater, auf ihn zu und fragte ihn: „Sie sind zu uns gekommen – warum? Was ist passiert?“ Der Gast könnte z.B. antworten: „Wissen Sie, meine Mama ist gestorben“ oder „Ich brauche das und das“ oder „Ich weiß nicht“… Dieses erste Gespräch mit einem kirchenfremden Menschen, der ins aus freiem Willen ins Gotteshaus kommt, ist sehr wichtig. Nicht nur, dass der Berater sagen muss, was der Angekommene tun sollte; er muss eventuell auch noch viel mehr sagen. Und wenn die Zeit zu knapp ist, müssen die Beiden vielleicht auch ihre Telefonnummern austauschen und sich dann im Gotteshaus oder bei einer gemeindlichen Versammlung treffen – bei einer Jugendversammlung oder eine anderen, wenn es im Gotteshaus eine außerordentliche Tagesordnung gibt.
Sektenmitglieder betreiben ihre sogenannte Missionarsarbeit, indem sie Leute am Ärmel zupfen und in ihre Organisationen hinschleppen. Das tun wir nicht. In unsere Gotteshäuser kommen die Menschen von selbst, auch wenn sie ungläubig sind, um deren Schönheit zu betrachten und all das zu sehen, was sie in ihrem Alltag nicht sehen. Und es ist sehr wichtig, diese Menschen willkommen zu heißen.
Das ist die wirkliche Arbeit, die in der Kirche in erster Linie junge, aber sicherlich auch vorbereitete Menschen leisten müssen. Und der Umfang dieser Arbeit ist immens. Dafür richten wir an unseren Lehranstalten Kurse ein, die vom Studienumfang her einem Halb-Bakkalaureat entsprechen. In diesen Kursen können alle Interessierten die christliche Mission sowie Sozial- und Jugendarbeit studieren. Warum Halb-Bakkalaureat? Wenn jemand die theologischen Disziplinen weiter studieren möchte, hat er damit die Möglichkeit, sich mehrere Studienjahre auf seinem Weg zum Bachelorgrad anrechnen zu lassen. Gemeindliche Beratung ohne Vorbereitung zu betreiben ist zwar auch möglich, aber riskant. Diese Ausbildungsmöglichkeit eröffnet sich heute, und ich möchte, dass ihr alle davon wisst. Wir alle erwarten euch in den Gemeinden, damit ihr zusammen mit den Priestern, die häufig ebenso jung sind wie ihr, euren Dienst leisten.
Nun möchte ich die Wichtigkeit der Freiwilligenarbeit noch einmal besonders betonen. Die Feierlichkeiten zum 700. Geburtstag des heiligen Mönches Sergius von Radonesch gab uns ein inspirierendes Beispiel für Freiwilligenarbeit. In der Umgebung von Freiwilligen zelebriere ich besonders gerne. Ich bezeichne sie liebevoll als meine Garde. Ich liebe es, in ihre Gesichter zu schauen und mit ihnen zusammen zu beten. Diese Menschen tun in der Kirche viele gute Sachen. Das Potential dieser ehrenamtlichen und Freiwilligen-Arbeit ist noch lange nicht erschöpft. Deshalb besteht für die heutige Generation die Möglichkeit, Werke zu vollbringen, von denen die Zukunft der Kirche und unseres Volkes abhängt.
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!
Pressstelle des Patriarchen von Moskau und ganz Russland
Quelle: www.bogoslov.ru